Spurensuche: Lina HĂ€hnle…

Hans-Werner Frohn / JĂŒrgen Rosebrock (Hrsg.):
Spurensuche: Lina HĂ€hnle und die demokratischen Wurzeln des Naturschutzes
Klartext Verlag, Essen, 2017
ISBN: 978-3-837-51871-9

Diese Rezension erschien erstmals im Juni 2018 im Magazin TIERBEFREIUNG, Ausgabe 99.

Wie nĂ€hert Mensch sich der Geschichte eines Verbandes, Vereins oder einer Bewegung, in der er_sie selbst aktiv ist? Welche Ergebnisse kann eine solche Spurensuche zu Tage tragen? Ein Beispiel fĂŒr einen solchen Versuch bietet der im August 2017 beim Klartext Verlag erschienene Sammelband Spurensuche – Lina HĂ€hnle und die demokratischen Wurzeln des Naturschutzes, herausgegeben von Hans-Werner Frohn und JĂŒrgen Rosebrock.

Der Sammelband stellt in acht BeitrĂ€gen die Geschichte des deutschen Vogelschutzbundes – der VorlĂ€uferorganisation des heutigen Naturschutzbund (NABU) – aus mehreren Perspektiven vor. Bereits in seinem Vorwort stellt Olaf Tschimpke, PrĂ€sident des NABU, die zentrale Rolle Lina HĂ€hnles, der GrĂŒnderin des Vogelschutzbundes, fĂŒr die Geschichte des eigenen Verbandes heraus. Auch auf den Hintergrund der entstehenden Umwelt-, Tier- und Vogelschutzbewegungen am Ende des 19. Jahrhunderts und die verschiedenen Motivationen geht Tschimpke bereits ein. Die KontinuitĂ€ten dieser Motivationen, die sich in den heutigen Bewegungen fĂŒr Umwelt- und Tierschutz wiederfinden lassen, bieten neben der Biografie Lina HĂ€hnles und ihrer Familie einen weiteren Rahmen fĂŒr die folgenden BeitrĂ€ge des Bandes.

In ihrer EinfĂŒhrung gehen Hans-Werner Frohn und JĂŒrgen Rosebrock Spuren demokratischer und sozialpartizipativer AnsĂ€tze im „deutschen Naturschutz bis 1970“ nach. Sie gehen auf die frĂŒhen AnsĂ€tze aus dem Ende des 19. Jahrhunderts ein und verorten diesen in einer Abgrenzungsbewegung zur industriellen und urbanen Entwicklung. Die VerĂ€nderungen innerhalb des Umgangs mit der Natur* fĂŒhrten auch zu einem anderen Bild dieser – Bedrohung weicht einem romantischeren Bild. Die unterschiedlichen Motivationen stellen auch Frohn und Rosebrock in ihrer EinfĂŒhrung heraus. Diese spiegeln sich in der frĂŒhen Naturschutzbewegung auch in den verschiedensten politischen Zielen ihrer Vertreter*innen wieder: Bis zum ersten Weltkrieg agierten sowohl völkische, rassistische oder reaktionĂ€re KrĂ€fte wie auch demokratische, sozialistische und progressive – sowohl im amtlichen als auch im verbandsmĂ€ĂŸig organisierten Naturschutz. Dies Ă€nderte sich nach dem ersten Weltkrieg: „WĂ€hrend der verbandliche Naturschutz sich weiterhin noch durch eine gewisse Bandbreite auszeichnete, verengte sich der amtliche Naturschutz (vor allem, aber nicht nur in Preußen) zusehendes auf eine nationalistisch-völkische Ideologie“ (S. 10). Auch dass Naturschutz zumindest auf der ideologischen Agenda des Nationalsozialismus (NS) stand, thematisieren die Autor*innen. Die Offenheit eines Großteils der  Natur- und Umweltschutzbewegung gegenĂŒber dem NS wird ebenso vorgestellt. Anschließend beschreiben die Autor*innen den Forschungsstand und die Forschungsgeschichte des Faches Umweltgeschichte. Sie stellen heraus, dass vor allem die reaktionĂ€ren, nationalistischen, völkischen und autoritĂ€tsglĂ€ubigen Teile der Bewegung im Mittelpunkt dieser Forschungen standen. Dass jedoch auch die demokratischen KrĂ€fte, die Naturschutz im Sinne der „Sozialen Frage“ sahen, tĂ€tig waren, stellt eine andere Perspektive der Umweltgeschichte dar. Dass diese noch beleuchtet werden muss, um ein grĂ¶ĂŸeres und vollstĂ€ndigeres Bild der frĂŒhen Naturschutzbewegung zu bekommen, stellen die Autor*innen heraus, verschweigen aber auch die Schwierigkeiten und Stolpersteine dieses Prozesses nicht: „Forschungen zur Naturschutzgeschichte mĂŒssen zwangslĂ€ufig auch deshalb im Fluss bleiben, weil viele Quellen bisher noch nicht gesichtet bzw. analysiert werden konnten und weil sich immer wieder neue Quellen erschließen können“ (S. 11).

Dieser Bearbeitung von zum Teil neugesichteten und bewerteten Quellen gehen die weiteren BeitrĂ€ge nach. Friedrich Schmoll geht in seinem – ebenfalls einfĂŒhrenden – Beitrag „(Freie) Natur – soziale Utopie oder totalitĂ€res Argument?“ der Vielschichtigkeit der frĂŒhen Naturschutzbewegung im Allgemeinen und des Vogelschutz im Besonderen nach. Auch er geht auf die Entwicklungen innerhalb der Naturschutzbewegung nach dem ersten Weltkrieg – die nahezu vollstĂ€ndige Homogenisierung der Naturschutzbewegung im nationalistischen Spektrum – ein. Doch Schmoll versucht auch, die Geschichten gegen den Strich zu lesen – die jeweiligen Akteur*innen werden in ihre gesellschaftlichen und politischen SphĂ€ren eingeordnet, was einen breiteren Blick auf die Geschichte der Vogelschutz- und Naturschutzbewegung ermöglicht. Die Ausgangs- und von Schmoll selbst als naiv bezeichnete Frage lautet fĂŒr seinen Beitrag: „Wer kam denn wann aus welchen GrĂŒnden auf die Idee, Vögel zu schĂŒtzen?“ (S. 24). Der Vogelschutz organisierte sich frĂŒher als die Naturschutzbewegung – somit finden sich auch frĂŒhere BegrĂŒndungszusammenhĂ€nge. Die NĂŒtzlichkeit von Vögeln als „SchĂ€dlingsbekĂ€mpfer“ steht in der frĂŒhen Vogelschutzbewegung als Motiv im Mittelpunkt. Aus dieser Perspektive entwickelt sich die Idee von Freund- und Partnerschaft zwischen Mensch und Vogel. „ErgĂ€nzt werden diese zweckrationalen Auffassungen von Natur und Vogelwelt durch eine bĂŒrgerliche GefĂŒhlskultur, in der nun Mitleid mit Tieren und ihre Wahrnehmung als leidensfĂ€hige Subjekte Verankerung findet. Zum Selbstbild des BĂŒrgertums [
] gehörte auch ein empathischer, >>humaner<< Umgang mit Tieren […]“ (S. 26). Im Folgenden beschreibt Schmoll die Entwicklungen innerhalb der Naturschutzbewegung – beispielsweise den sich entwickelnden Heimatschutz. Er zeigt jedoch auch „linke“, „sozialistische“ Positionen innerhalb der Debatte um Naturschutz auf. Unter anderem lĂ€sst er Karl Liebknecht ausfĂŒhrlich zu Wort kommen. Dieser ordnet den Schutz der Natur in den Kontext demokratischer und partizipativer AnsĂ€tze ein und verknĂŒpft Naturschutz auch mit dem Zugang zu Natur* fĂŒr die gesamte Bevölkerung.

Die GrĂŒnderin des Vogelschutzbundes Lina HĂ€hnle steht im Mittelpunkt des Beitrags von Anna-Katharina Wöbse. Wöbse geht der Frage nach, wie HĂ€hnle und der Vogelschutz in drei verschiedenen Gesellschaftssystemen agierten und sich auf diese einstellten. HĂ€hnle, die den Bund fĂŒr Vogelschutz 1899 grĂŒndete, agierte bis 1937 als dessen Vorsitzende und bis zu ihrem Todestag als Ehrenvorsitzende. „Ihr Engagement erstreckte sich folglich ĂŒber vier Jahrzehnte und drei verschiedene politische Systeme: Kaiserreich, Weimarer Republik und Nationalsozialismus“ (S. 35). Lina HĂ€hnle war eine zentrale Figur bei der Etablierung einer zivilgesellschaftlich orientierten Organisation innerhalb des frĂŒhen Naturschutzspektrums. Bemerkenswert an HĂ€hnle erscheint auch die Öffnung „fĂŒr beide Geschlechter“, „alle Schichten [und] Generationen“ (ebd.). Als Frau* mit einem „bĂŒrgerlich-liberalen“ Hintergrund „hatte sie von Demokratisierungsprozessen profitiert“ (ebd.) – beispielsweise bei der Nutzung des Vereinsrechts fĂŒr ihre Ziele und Zwecke. Erstaunlich erscheint der Befund, dass sie den Bund bald nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialist*innen „systemkonform“ ausrichtete (ebd.). Einerseits passte „[d]ie Vogelmutter“ (S. 37) als TrĂ€gerin des Mutterkreuzes in das Propagandakonzept des NS-Naturschutzes, andererseits wurde Reinhold HĂ€hnle, einer ihrer Söhne, 1940 von den Nazis im Rahmen der „Euthanasiepolitik“ ermordet. Mit dieser Ambivalenz im Hintergrund verweist Wöbse – wie auch die anderen Autor*innen – auf die schwierige und noch zu bearbeitende Quellenlage. Wöbse wirft in ihrem Beitrag verschiedenste Schlaglichter sowohl auf die Biografie HĂ€hnles als auch auf die Entwicklungen, die sie beim Bund fĂŒr Vogelschutz anschob. Sie nutzte fĂŒr die Verbreitung von Kampagnen die zu ihrer Zeit modernsten Technologien: Zielgerichtet kombinierte sie Lobbyarbeit und Kampagnenarbeit vor Ort, sie netzwerkte unermĂŒdlich und baute so einen der grĂ¶ĂŸten Vogelschutzvereine auf. Am Beispiel der Kampagne gegen das Tragen von Federn als Statussymbol zeigt sich genau diese Kombinationsgabe HĂ€hnles. Ein großer Teil des Aufsatzes widmet sich der Zeit des Nationalsozialismus – Wöbse zeigt detailliert die Verstrickungen des Vogelschutzbundes mit dem NS und dem Verhalten HĂ€hnles wĂ€hrend dieser Zeit. Bis 1937 leitete sie den vom Reichsforstministerium als einzigen legitimen Vogelschutzakteur anerkannten Reichsvogelschutzbund. Von 1937 bis zu ihrem Tod im Jahr 1941 stand sie diesem als Ehrenvorsitzende bei. Wöbse schließt mit Fragen nach der möglichen Erinnerungskultur eines Verbandes wie des NABU im Besonderen und der Naturschutzbewegung im Allgemeinen. Das Beispiel Lina HĂ€hnle macht es dabei scheinbar besonders schwierig, aber auch spannend, denn „[a]us der Retrospektive ist sie allerdings auch eine widersprĂŒchliche und streckenweise erstaunlich schwer zu fassende Figur“ (S. 38).

Eine grĂ¶ĂŸere Perspektive nimmt Hansjörg KĂŒster in seinem Beitrag zu „Lina HĂ€hnle in den ‚Netzwerken‘ WĂŒrttembergs“ ein. Er nimmt das Wirken HĂ€hnles und ihres Mannes Hans in den Blick und untersucht dabei die Netzwerke, in denen sich beide engagierten. Dabei werden sowohl die politischen als auch die zivilgesellschaftlichen und religiösen Verwobenheiten der HĂ€hnles und des Bundes fĂŒr Vogelschutz beschrieben. Die politischen Knotenpunkte in diesem Netzwerk bildeten vor allem Parteien aus dem (links)liberalen Spektrum – wie beispielsweise VorlĂ€uferorganisationen der Deutschen Volkspartei (DVP), wie Hans HĂ€hnle einer angehörte. Weiterhin verband sie dieses Netzwerk mit Albert Knapp, evangelischer Geistlicher und GrĂŒnder des ersten deutschen Tierschutzvereins 1837. Neben Knapp fĂŒhrt KĂŒster weitere Pfarrer und Geistliche auf, die sich fĂŒr Tier-, Umwelt- und Vogelschutz engagierten. Dem Dichter Christian Wagner „aus Warmbronn, einem Dorf sĂŒdwestlich von Stuttgart“ (S. 60) widmet KĂŒster einen grĂ¶ĂŸeren Abschnitt, da er fĂŒr die NetzwerktĂ€tigkeit Lina HĂ€hnles ein gutes Beispiel abgibt. Der in bescheidenen VerhĂ€ltnissen lebende Dichter engagierte sich auf lokaler Ebene fĂŒr Tier- und Umweltschutz, war Mitglied im Bund fĂŒr Vogelschutz und stand in Briefkontakt mit Lina HĂ€hnle. Sie gewĂ€hrte ihm im Jahr 1911 ein Stipendium fĂŒr einen Italien-Aufenthalt, fĂŒr den er sich Ă€ußert dankbar zeigte. Die Reise diente ihm noch Jahre als Inspiration fĂŒr seine Werke (S. 60-62). Es folgt ein Abschnitt ĂŒber die Verbindungen zu Robert Bosch als Beispiel fĂŒr die Verbindung der HĂ€hnles in den industriellen Bereich. Die Schlaglichter KĂŒsters machen bereits deutlich, dass die HĂ€hnles und der Bund fĂŒr Vogelschutz ein wichtiger Knotenpunkt in den „wĂŒrttembergischen Netzwerken“ des Tier- und Umweltschutzes darstellten.

JĂŒrgen Rosebrock geht in „Naturschutz, Politik und soziales Engagement“ auf „[e]in[en] Streifzug durch drei Generationen der Familie HĂ€hnle“. Der Zugriff erfolgt an dieser Stelle ĂŒber eine fragmentarische Darstellung einzelner Biografien, die sich zu AnsĂ€tzen einer Familienbiografie verdichten. Seinen „roten Faden bildet die Frage nach dem Zusammenspiel von Naturschutz, politischem und sozialem Engagement und ob sich daraus RĂŒckschlĂŒsse und Indizien fĂŒr liberale und demokratische Bezugspunkte ergeben könnten“ (S. 68). Die kurzen Biografien beginnen mit Hans HĂ€hnle, der Lina HĂ€hnle im Jahr 1871 heiratete. Hans HĂ€hnle war Fabrikant, grĂŒndete mit 20 Jahren die „WĂŒrttembergische Wollfilzmanufaktur“ (die einzige ihrer Art in Deutschland) und verhalf damit seiner Heimatstadt Giengen zu einer rasanten Entwicklung. Laut Rosebrock gehörte HĂ€hnle „zu den Unternehmern mit einem ausgeprĂ€gten sozialen Gewissen“ (S. 68). Dies zeigte sich unter anderem in der Bereitstellung von gĂŒnstigem Wohnraum fĂŒr die Arbeiter*innen der Fabrik oder der Einrichtung einer Kinderkrippe fĂŒr die Giengener Bevölkerung. Die Schaffung dieser Einrichtung darf jedoch nicht darĂŒber hinwegtĂ€uschen, dass auch die Fabrikarbeiter*innen in Giengen „keine paradiesischen“ (S. 73) ZustĂ€nde vorfanden, worauf auch Rosebrock deutlich verweist. Auch das (partei)politische Engagement von Hans HĂ€hnle wird aufgegriffen. Er war Mitglied der DVP, einem Sammelbecken linksliberaler und demokratischer KrĂ€fte nach den Revolutionsversuchen 1848.  Er war mehrfach Kandidat und auch Mitglied des Reichstages sowie der zweiten Kammer des WĂŒrttembergischen Landtags. Auch seine Rolle als Knotenpunkt innerhalb des Netzwerkes von VogelschĂŒtzer*innen wird thematisiert. Das zweite biografische Fragment widmet sich Eugen HĂ€hnle, dem Ă€ltesten Sohn Lina und Hans HĂ€hnles. Eugen HĂ€hnle war wie sein Vater parteipolitisch aktiv und im selben Wahlkreis 1912–1918 Reichstagsmitglied, jedoch fĂŒr eine andere Partei: Er war Mitglied der Fortschrittlichen Volkspartei (FVP). Laut Rosebrock sind nur wenige Wortmeldungen von Eugen HĂ€hnle ĂŒberliefert. Nach dem Ende des Kaiserreiches war Eugen HĂ€hnle im Parlament der Weimarer Republik nicht mehr vertreten. Die dritte betrachtete Generation stellt beispielhaft Hans Otto HĂ€hnle dar. Er war Sohn von Otto HĂ€hnle (zweiter Sohn von Lina und Hans) und fĂŒhrte zunĂ€chst die Familientradition der „klassischen Themen des Naturschutzes“ (S. 88) fort. Ab den 1980er Jahren verĂ€nderte sich sein Engagement jedoch immer mehr hin zu aktuellen Umweltproblemen (ebd.). So war Hans Otto HĂ€hnle aktiv in der Anti-AKW-Bewegung und nutzte hierfĂŒr sein Netzwerk – auch in evangelischen Kirchenkreisen. Alle drei vorgestellten Personen zeigen durchaus die demokratischen Verbindungen und Ansichten von (einigen) Akteur*innen im Tier-, Vogel- und Umweltschutz auf – wenn der Fokus auf das politische und soziale Engagement erweitert wird und nicht beim Naturschutz stehen bleibt.

Einem weiteren Vertreter der Familie HĂ€hnle widmet sich Anita Binder in ihrem Beitrag zu Hermann HĂ€hnle, dem vierten Sohn von Lina und Hans HĂ€hnle. Schon frĂŒh begeisterte er sich fĂŒr Natur*, Technik und Sport, er fuhr Ski, wanderte gern und war Mitglied in verschiedensten Vereinen. Zudem begeisterte er sich vermehrt fĂŒr das neue Medium Film und verband es mit seinen weiteren Anliegen und Neigungen. So gelang es ihm 1902 als erster filmische Aufnahmen freilebender Tiere zu machen (S. 99). Immer wieder nutzten HĂ€hnle und der Bund fĂŒr Vogelschutz das Medium Film, um auf ihre Ziele aufmerksam zu machen – so konnte Hermann HĂ€hnle seine beiden Passionen miteinander verbinden, beispielsweise in verschiedenen Lehrfilmen fĂŒr den Bund fĂŒr Vogelschutz. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde Hermann HĂ€hnle zum stellvertretenden Vorsitzenden des Reichsbund fĂŒr Vogelschutz gewĂ€hlt. „Eine EinschĂ€tzung seiner Rolle im Reichsbund fĂŒr Vogelschutz und eine Bewertung seiner persönlichen AktivitĂ€ten wĂ€hrend der NS-Zeit mĂŒssen offen bleiben, da hierzu kaum aussagefĂ€hige Quellen vorliegen“ (S. 107). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Bund fĂŒr Vogelschutz – verbunden mit allen Schwierigkeiten – unter seinem Vorsitz wiederaufgebaut. Die Methode der Mitgliederwerbung durch Filme trĂ€gt dabei deutlich die Handschrift Hermann HĂ€hnles. Bis ins hohe Alter blieb HĂ€hnle aktiv – sowohl beruflich als auch als VogelschĂŒtzer. Er starb im Jahr 1965 und hinterlĂ€sst eine Filmsammlung, die im österreichischen Filmarchiv gelagert wird.

Weiter spannt Hans-Werner Frohn den Bogen seiner Betrachtung, wenn er auf eine „Spurensuche nach demokratischen, sozialpartizipativen bzw. -emanzipatorischen Konzepten des bĂŒrgerlichen Naturschutzes 1898–1980“ (S. 113) geht. In einem der umfangreichsten BeitrĂ€ge des Sammelbandes zieht Frohn eine große Linie. Er widmet der Begrifflichkeit „Volk“ einige einfĂŒhrende Worte und beschreibt auch den Wandel in der Wahrnehmung dieses Konzeptes. So nutzten auch frĂŒhe Vertreter*innen des demokratischen Naturschutzes das Konzept „Volk“ – jedoch mit anderen Zuschreibungen als die Vertreter*innen aus dem „völkisch-rassistischen“ Lager.  Auf das SelbstverstĂ€ndnis vieler Naturschutzakteur*innen als „unpolitisch“ (ebd.) weist der Beitrag hin.  Er zeigt zudem verschiedenste Facetten der sich entwickelnden Bewegungen fĂŒr Naturschutz und deren Niederschlag in politischen Debatten. So wird ein Antrag des linksliberalen Abgeordneten Wilhelm Wetekamp thematisiert, der quasi als Startschuss fĂŒr die parlamentarische Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Naturschutz gesehen werden kann. In Preußen entwickelten sich StĂŒck fĂŒr StĂŒck AnsĂ€tze, die auf einen staatlichen Naturschutz hinauslaufen sollten. In der GrĂŒndungsphase dieser staatlichen Stelle wurde jedoch ein interner Regierungskompromiss erwirkt, der auf eine staatliche Finanzierung einer Stelle verzichtete – Naturschutz sollte ehrenamtlich betrieben werden. Hugo Conwetz wurde 1906 der Kopf zur Staatlichen Stelle fĂŒr Naturdenkmalpflege in Preußen. Conwetz agierte folgend vor allem als politischer Lobbyist fĂŒr den Naturschutz. Die Erfolge sollten jedoch bescheiden bleiben. Die Erkenntnis, dass Natur- und Umweltschutz nur auf einer großen Basis zu machen seien, verĂ€nderte vor allem das Auftreten zivilgesellschaftlicher Akteur*innen. Auch hier begegnet uns wieder der Begriff „Volk“ – in einer Richtung, die eher darauf abzielt, möglichst viele Menschen anzusprechen und das Anliegen auf möglichst großer Basis aufzustellen. Der amtliche Naturschutz ging andere Wege, vor allem nach dem ersten Weltkrieg. Die Gleichschaltung der NaturschutzverbĂ€nde (ohne erkennbare WiderstĂ€nde, mit Ausnahme der Naturfreunde) und deren Rolle im „Dritten Reich“ bilden einen weiteren Schwerpunkt von Frohns Beitrag. Die Nachkriegsgeschichte und die Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus erhalten kein positives Urteil von Frohn: „KEIN [herv. im Or.] demokratischer Neubeginn nach 1945“ (S. 134). Die Akteur*innen blieben grĂ¶ĂŸtenteils weiter aktiv, eine Demokratisierung der VerbĂ€nde war dabei nicht erwĂŒnscht. Naturschutz war (wieder) unpolitisch und verlief quer zu den politischen Ideen – so zumindest einige, wenn nicht die meisten, Vertreter*innen des organisierten Naturschutzes. Dass ausgerechnet durch Verbindungen zu alten NS-NaturschĂŒtzer*innen Ideen entstehen sollten, die zumindest eine Neuausrichtung des Naturschutzes andeuten, scheint auch laut Frohn „erklĂ€rungsbedĂŒrftig“ (S. 137).  Hans-Werner Frohn kommt zu dem Ergebnis: „Ein genuin demokratisch ausgerichteter Naturschutz lĂ€sst sich also, so das Ergebnis dieses Zwischenbefundes, nur fĂŒr einen kleinen Teil des Naturschutzes zur Zeit der Weimarer Republik ausmachen. [
] Eine durchgreifende Demokratisierung in der Tiefe erlebte [
] Naturschutz erst in den 1970er und 1980er Jahren“ (S. 142).

Auf eine dieser „Vergessenen Traditionen“ (S. 147) weist Ute Hasenöhrl im abschließenden Beitrag des Sammelbandes hin. Sie widmet sich dem „Touristenverein >Die Naturfreunde< und de[m] proletarische[n] Naturschutz“ (ebd.). Der Verein (1895 in Wien gegrĂŒndet) wurde als GegenstĂŒck zum bĂŒrgerlichen Naturschutz inszeniert. Hasenöhrl zeichnet die Entwicklung und AktivitĂ€ten des Vereins und seiner Ortsgruppen im Groben nach. Sie stellt dabei heraus, dass ein zentrales Motiv das „soziale Wandern“ gewesen ist. Dabei wurden zwei Punkte sozialdemokratischer PrĂ€gung des Vereins deutlich: Zum einen konnte durch das Wandern ein Ausgleich zur harten Lohnarbeit prĂ€sentiert werden, zum anderen konnte die Bevölkerung außerhalb der StĂ€dte durch Die Naturfreunde mit sozialdemokratischen Ideen in BerĂŒhrung kommen. Im Gegensatz zu vielen anderen Organisationen aus dem Bereich Naturschutz ist bei den Naturfreunden keine Einbindung in das NS-Regime nachweisbar – ganz im Gegenteil: „Eine Naturfreunde-spezifische WiderstandstĂ€tigkeit war der Grenzdienst im Gebirge, bei der Bergsteiger Informationen und Menschen ĂŒber unkontrollierte Bergwege schmuggelten“ (S. 152). Auch in der Nachkriegszeit sollten Die Naturfreunde eine Ausnahme innerhalb des Naturschutzspektrums bleiben. Ihr Themenspektrum war um vieles breiter und orientierte sich an gesellschaftlichen Debatten. In den 1950er und 1960er Jahren hatten Die Naturfreunde eine „Scharnierposition zwischen traditioneller Arbeiter- und neuen Protestbewegungen“ (S.157). Im Zuge der Ausdifferenzierung Neuer Sozialer Bewegungen im Nachgang der 68er-Bewegung verloren Die Naturfreunde jedoch diese Position. Dass fĂŒr den Abschluss ein Beitrag ĂŒber eine explizit demokratisch, sozialdemokratisch (bis sozialistisch) verortete Organisation gewĂ€hlt wurde, macht durchaus Mut auf weiteren Spurensuchen nicht nur auf braune Wurzeln der Tier-, Umwelt- und Vogelschutzbewegungen zu treffen.

Die BeitrĂ€ge des vorgestellten Sammelbandes zeichnen sich alle durch die Offenheit und Breite der Betrachtung der Geschichte des Natur- und Vogelschutzes aus. Die Spurensuche nach demokratischen Wurzeln im Naturschutz kann hier – und das machen die Autor*innen deutlich – durch einen neuen Zwischenstand ergĂ€nzt werden. Die Offenheit zeigt sich vor allem daran, dass trotz des Schwerpunkts auf demokratische Wurzeln im Naturschutz die nationalistischen, völkischen und rassistischen Perspektiven sowie die Verstrickungen einzelner Akteur*innen und VerbĂ€nde in den Nationalsozialismus ausgiebig und kritisch thematisiert werden. Diese Herangehensweise könnte und sollte meines Erachtens auch fĂŒr die Aufarbeitung der Geschichte der Tierrechts-/ Tierbefreiungsbewegungen gelten. Dadurch kann ein erweiterter Blick auf die eigene Bewegung genommen werden, der auch rechte, völkische oder andere menschenverachtende Positionen innerhalb der eigenen Bewegung freilegen kann, um diese zu analysieren und diesen vorzubeugen. Die Problemlage der teils schwer auffindbaren und nicht-gesichteten QuellenbestĂ€nde macht die schwierige Arbeit bei der Betrachtung von Verbands- und Bewegungsgeschichte deutlich – sicherlich auch ein PhĂ€nomen, mit dem sich Interessierte an der Geschichte der Tierrechts-/ Tierbefreiungsbewegungen beschĂ€ftigen mĂŒssen. Inhaltlich interessant fĂŒr die Erforschung der Geschichte der Tierrechts-/ Tierbefreiungsbewegungen und deren VorlĂ€ufer*innen sind die im Sammelband vorgestellten Verbindungen und Netzwerke von Lisa HĂ€hnle und dem Bund fĂŒr Vogelschutz unter anderem mit frĂŒhen Vertreter*innen des Tierschutzes (z.B. Knapp) in Deutschland. FĂŒr die aktuelle Ausgabe der TIERBEFREIUNG mit dem Titelthema „Ökologisch leben – FĂŒr eine Zukunft aller Lebewesen“ bietet sich der Band ebenfalls an: Vogelschutz scheint eine Schnittstelle zwischen frĂŒhen Natur- und Tierschutzbestrebungen gewesen zu sein. Kampagnen gegen das Tragen von Federn als Mode-Accessoires standen ebenso auf dem Programm des Bundes fĂŒr Vogelschutz wie das Anlegen von Naturschutzgebieten als Lebensraum fĂŒr Vögel und andere nichtmenschliche Tiere. Der Sammelband selbst gibt zwar keine direkten Einblicke in die praktische Methodik des Vogelschutzes (z.B. Nisthilfenbau), diese sollten sich jedoch in den QuellenbestĂ€nden des Bundes fĂŒr Vogelschutz finden lassen. Es bleiben also noch viele Spuren zu verfolgen. Die vorgestellte Publikation bietet bereits einige dieser Spuren an: Viel Spaß beim Suchen und Finden!