Kristina Gehrmann:
Der Dschungel. Nach dem Roman von Upton Sinclair
Carlsen Verlag GmbH, Hamburg, 2018
ISBN: 978-3-551-71438-1
Diese Rezension erschien erstmals im März 2019 im Magazin TIERBEFREIUNG, Ausgabe 102.
Vor über 100 Jahren veröffentlichte Upton Sinclair seinen Roman The Jungle – zunächst als Serie in der sozialistischen Zeitschrift Appeal to Reason, ein Jahr später in Buchform. Noch im gleichen Jahr wurde er auch ins Deutsche übersetzt, erst unter dem Titel Der Sumpf (zur Mühlen, 1906), später als Der Dschungel (beispielsweise Gronke, 1974). Am Beispiel einer aus Litauen in die USA eingewanderten Familie kritisierte der Roman die skandalösen Produktions- und Arbeitsbedingungen im damals größten Schlachthof der Welt, den Union Stock Yards in Chicago. Sinclair selbst hatte in den Schlachtfabriken gearbeitet und recherchiert – nur so konnte er in seinem Roman die katastrophalen Folgen des von Profitgier und Korruption geprägten Kapitalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts in allen Einzelheiten und sehr realistisch beschreiben.[1]
Im März 2018 erschien nun auch eine Graphic Novel von Kristina Gehrmann im Carlsen Verlag, die auf dem Roman basiert.[2] In 11 Kapiteln auf 384 Seiten wird die Geschichte der litauischen Familie grafisch dargestellt. Die vielen schwarz-weißen, Manga-ähnlichen Zeichnungen lassen die Leser*innen in eine Welt vor über einhundert Jahren eintauchen und die Erlebnisse einer litauischen Einwandererfamilie nachempfinden – von ihrer Ankunft in den USA über ihre Arbeit in den Schlachthöfen, Düngerproduktionshallen und Konservenfabriken Chicagos bis hin zu persönlichen Schicksalsschlägen, beispielsweise beim Hauskauf oder in Situationen der Arbeitslosigkeit. Es ist eine spannende und gut gezeichnete Graphic Novel – leider nur, wenn die Leser*innen das Original nicht kennen.
Sinclair schilderte in seinem Roman minutiös die entsetzlichen Folgen eines entfesselten Kapitalismus für die ganze Familie sowie Arbeitsvorgänge und Produktionsbedingungen in den Schlachtfabriken – eine Steilvorlage für eine Graphic Novel, die leider nicht genutzt wurde. Stattdessen wirken die Protagonist*innen im Manga-Stil niedlich und naiv, die Fabriken und Straßen sauber und leer. Die hässliche Realität der damaligen Zeit (und der Schlachtfabriken im Allgemeinen) kommt beim Betrachten der Graphic Novel einfach nicht an – was vor allem Kenner*innen des Romans enttäuschen dürfte. Mehr noch: Teile des Romans wurden nicht nur deutlich abgemildert, manche wurden auch entfernt oder verdreht. Vom grausamen Tod einiger Familienmitglieder erfahren die Leser*innen beispielsweise nichts.
Zwar bleibt ein Hauch von Kapitalismuskritik und Sinclairs Nähe zu sozialistischen Anschauungen in der Graphic Novel erhalten, doch aus Sinclairs „Fabrikhöllen“ ist nur wenig zu sehen. Die grausigen Einzelheiten aus Sinclairs Schilderung der Schlachthöfe werden einfach unterschlagen (so fielen im Roman etwa Menschen in Tanks mit Tierresten, während die Verarbeitung einfach weiterlief), die wenigen Zeichnungen aus den Schlachthöfen wirken meist eher surreal. Als gleichzeitige Kritik von Kapitalismus und Tierausbeutung taugt die Comicversion daher leider nicht. Während der Roman damals einen Skandal hervorrief und zu politischen Maßnahmen, wie zur Inspektion der Zustände in den Schlachthöfen und (temporärer) Verbesserung der Arbeits- und Hygienebedingungen, führte, kann dies von der Graphic Novel nicht erwartet werden, obwohl das Thema nicht an Aktualität verloren hat. Timur Vermes hat es in seiner Rezension[3] treffend zusammengefasst: „Gehrmann zeigt statt Unerträglichem lieber Unannehmlichkeiten. Das ist zu wenig“.
Wer Bilder und Beschreibungen der Zustände in Schlachthöfen nicht mag, kann auf die Graphic Novel beruhigt zurückgreifen – allen anderen ist wohl doch eher der Roman von Sinclair zu empfehlen. Leider eine verpasste Chance…
[1] Weitere Informationen zum Roman hat Matthias Rude bereitgestellt: https://bit.ly/2CAulhN
[2] https://bit.ly/2FU7xxi
[3] https://bit.ly/2Hf4al9