Tierwohl und Tierethik

Daniel Wawrzyniak:
Tierwohl und Tierethik – Empirische und moralphilosophische Perspektiven
transcript Verlag, Bielefeld, 2019
ISBN: 978-3-83764-560-5

Diese Rezension muss mit meinem Fazit beginnen: Ein ĂŒberraschend gutes Buch! Das mag im ersten Moment vielleicht seltsam klingen, lĂ€sst sich aber schnell erlĂ€utern. Beim Begriff „Tierwohl“ denken die meisten vermutlich eher an eine weitere Marketingstrategie zur Legitimierung der Tierindustrie. Beim Lesen des Buchtitels erwartet der eine oder die andere also zunĂ€chst, dass aus scheinbar ethischer Perspektive Tierausbeutung dank eines neuen Labels gerechtfertigt werden soll. Diese Bedenken könnten noch verstĂ€rkt werden, da die vorliegende Arbeit auch von einem NiedersĂ€chsischen Ministerium gefördert wurde. Ausgerechnet Niedersachsen – das Bundesland, das als Zentrum der agrarindustriellen Tierausbeutung in Deutschland gilt. Doch dann werden bereits in der Einleitung die Vorgehensweisen der (empirischen) Tierwohlforschung kritisiert – und ihnen im Buch ernsthafte moralphilosophische Perspektiven entgegengesetzt.

Doch nun von vorn: Das 2019 im transcript Verlag erschienene Buch „Tierwohl und Tierethik – Empirische und moralphilosophische Perspektiven“ von Daniel Wawrzyniak basiert auf dessen Dissertationsschrift aus dem Jahr 2017. Diese wiederum wurde an der Philosophischen FakultĂ€t der UniversitĂ€t Göttingen im Rahmen des Promotionsprogramms „Animal Welfare in Intensive Livestock Production Systems“ – gefördert durch das NiedersĂ€chsische Ministerium fĂŒr Wissenschaft und Kultur sowie die Georg-Christoph-Lichtenberg-Stiftung – angefertigt.

Formal ist das Buch in drei Teile geteilt, die von einer Einleitung und einem Gesamtfazit mit Ausblick umrahmt werden. Die drei Hauptteile beschĂ€ftigen sich mit einem praxisnahen und einem philosophischen VerstĂ€ndnis des Tierwohls sowie einer möglichen VerknĂŒpfung beider Perspektiven im Sinne einer diskutierten Anwendbarkeit des moralphilosophischen Tierwohl-Begriffs auf die Nutztierhaltung. AnsĂ€tze und Vorgehensweise werden immer wieder gut erklĂ€rt – selbst fĂŒr Nicht-Philosoph*innen wird das Buch damit verstĂ€ndlich. Der rote Faden bleibt dabei stets erhalten – dank guter Strukturierung, wiederholter Zielbenennungen, mehrfacher Zwischenfazits und hilfreicher Querverweise. Allerdings gerĂ€t die Struktur bei genauem Lesen etwas ins Wanken: Das im zweiten Hauptteil versprochene fĂŒnfte Kapitel mit einem den Ergebnissen entsprechenden, neudefinierten Tierwohlbegriff fehlt in dem Sinne, zumindest als eigenstĂ€ndiges Kapitel. Die neue, moralphilosophisch hergeleitete Tierwohldefinition lĂ€sst sich aber dennoch finden, nur eben 30 Seiten frĂŒher als erwartet. Schwerwiegender ist hingegen ein weiteres Manko aus meiner Sicht: Im gesamten Buch wird leider nicht gegendert und es lĂ€sst sich auch keine BegrĂŒndung dessen finden.

Von den formalen Kriterien einmal abgesehen, punktet das Buch – wie eingangs bereits angedeutet – vor allem auf inhaltlicher Ebene: In der Einleitung werden nach kurzer EinfĂŒhrung in die Tierwohl-Debatte zunĂ€chst die drei Hauptteile, ihre Fragestellungen, Ziele und Vorgehensweisen erlĂ€utert. Hier wird bereits klargestellt, dass „ein adĂ€quates VerstĂ€ndnis von Inhalt und Bedeutung des Tierwohls eine FortfĂŒhrung der Nutztierhaltung insgesamt als moralisch illegitim herausstellt“ (S. 14). So weit, so gut. Gerechtfertigt wird diese Aussage dann im Rahmen der eigentlichen Arbeit (siehe unten). Das heißt aber nicht, dass es sich hierbei „nur“ um eine weitere Kritik unseres Umgangs mit Tieren* handelt. Vielmehr versucht der Autor, „eine BrĂŒcke zwischen der empirischen Tierwohlforschung und der philosophischen Kritik zu schlagen, indem das [
] Schlagwort des Tierwohls aufgegriffen und in seiner Bedeutung fĂŒr tierethische Diskurse beleuchtet wird“ (S. 19). Im ersten Hauptteil werden deshalb auch drei (eigentlich vier) prominente Beispiele der empirischen Tierwohlforschung – das Brambell-Komitee, das Farm Animal Welfare Council/ Committee und die Universities Federation for Animal Welfare sowie kurz das Welfare Quality Project – vorgestellt und kritisch beleuchtet. Insbesondere die Kritikpunkte werden anschließend gut zusammengefasst: Das TierwohlverstĂ€ndnis in der empirischen Tierwohlforschung wird als reduktionistisch, inkohĂ€rent, pragmatisch auf Umsetzbarkeit fokussiert, menschenzentriert, grundsĂ€tzlich tötungsbejahend und die Tierausbeutung als alternativlos verstehend entlarvt, um nur einige Kritikpunkte zu nennen.

Daran anschließend gibt es im zweiten Hauptteil verschiedene moralphilosophische AnnĂ€herungsversuche an ein deutlich umfangreicheres TierwohlverstĂ€ndnis, die in einem neuen Wohlansatz mĂŒnden: Tierwohl ist demnach dann gegeben, wenn ein Individuum „mit seinen objektiven LebensumstĂ€nden in autonomer Weise fĂŒr sich zufriedenstellend zurecht kommen kann“. Dies sei aber nicht der Fall, wenn „das Individuum LebensumstĂ€nde akzeptiert oder anstrebt, die es in seiner Möglichkeit einschrĂ€nken, sozial zu interagieren, sich frei zu betĂ€tigen, sich wohl zu fĂŒhlen, sich am Leben sowie körperlich und psychisch vital zu erhalten“ (S. 190). SpĂ€testens anhand dieser Definition sollte sich die zuvor zitierte Aussage aus der Einleitung zur Unvereinbarkeit von Tierwohl und Tiernutzung von selbst erklĂ€ren. Falls nicht, gibt es immer noch den dritten Hauptteil, der den entwickelten Tierwohlbegriff auf die Nutztierhaltung anzuwenden versucht. Doch auch hier wird schnell klar, dass beispielsweise allein die Tötung der Tiere* in der Nutztierhaltung nicht mit dem anspruchsvollen Tierwohl in Einklang zu bringen ist. Gleichzeitig werden auch die Grenzen des Tierwohlkonzepts anhand einiger Beispiele bzw. SonderfĂ€lle diskutiert. Nichtsdestotrotz bleibt das Fazit, dass sowohl ein anspruchsvolleres TierwohlverstĂ€ndnis als auch das Überdenken des eigenen moralischen SelbstverstĂ€ndnisses vonnöten sind – denn das in Tierindustrie und Tierwohlforschung verbreitete TierwohlverstĂ€ndnis und (tier-)ethische Überlegungen sind nicht in Einklang zu bringen: „Die Hoffnung der FĂŒrsprecher der Nutztierhaltung, selbige durch innovative Reformen mit rundum ‚gutem Gewissen‘ fortfĂŒhren zu können, erweist sich dabei als fehlgeleitet“ (S. 224). Denn: „Solange Tiere einem NutzenkalkĂŒl unterzogen bleiben, wird ihr Wohl immer beeintrĂ€chtigt werden“ (S. 296). Dabei geht es hier nicht nur um die Verursachung von (Tier-)Leid, sondern auch um die BeeintrĂ€chtigung positiver Erfahrungen der Tiere* – das könnte auch fĂŒr Tierbewegte eine neue Perspektive sein.

Um nun auf mein eigenes, anfangs bereits angedeutetes Fazit zurĂŒckzukommen: Überraschend positiv war nicht nur die klare Positionierung zur Unvereinbarkeit von Tierindustrie und Tierethik, sondern auch die – wenngleich kurze – EinfĂŒhrung in alternative Konzepte, wie TierwĂŒrde und Tierrechte. Abschließend sind zudem noch die „Überlegungen fĂŒr die Zukunft der Tierwohlwissenschaft“ als positiv hervorzuheben, da sie die aus der Arbeit abgeleitete Forderung eines Ausstiegs aus der „Nutztierhaltung“ aus der philosophischen Debatte zurĂŒck in die Praxis holt. So werden hier am Ende des Gesamtfazits noch Schritte fĂŒr eine gesellschaftliche Transformation benannt, deren Ziel die Abschaffung der Tierausbeutung ist – Schritte, die nicht nur von den Protagonist*innen der Tierindustrie und der Tierwohlforschung, sondern auch von Tierrechts- (und Tierbefreiungs-)aktivist*innen, Politiker*innen und der Gesellschaft als solche schon jetzt und in Zukunft umgesetzt werden sollten. Sogar der in der Tierbefreiungsbewegung oft thematisierte Widerspruch zum Tierschutz wird dabei indirekt angesprochen: „Keine besseren Haltungsbedingungen fĂŒr sie einzufordern, hieße das Wohl jetziger Tiere, zugunsten einer schnelleren Befreiung zukĂŒnftiger Tiere vom NutzenkalkĂŒl, komplett zu opfern“ (S. 380). Damit liefert das Buch vermutlich auch fĂŒr viele Aktivist*innen neue Denk- und DiskussionsansĂ€tze. Ich kann es deshalb sehr empfehlen