Interview mit Renate Brucker – Historikerin* und Begründerin* des Magnus-Schwantje-Archiv

Renate Brucker ist seit mehreren Jahrzehnten in der Tierrechtsbewegung aktiv. Sie ist studierte Historikerin* und hat lange Zeit in der Erwachsenenbildung in Dortmund gearbeitet. Sie forscht zur Geschichte der Tierrechtsbewegung und legte ihren Schwerpunkt auf das Leben und Schaffen von Magnus Schwantje. Diesem Pazifisten* und Vertreter* einer radikalen Ethik ist auch das nach ihm benannte Magnus-Schwantje-Archiv, welches Renate ins Leben rief, gewidmet. Sie stellt hier Publikationen von Schwantje und anderen progressiven Kräften des Tierschutzes und Vegetarismus des 20. Jahrhunderts zur Verfügung. Außerdem publizierte sie in den letzten Jahren verschiedenste Beiträge zu Schwantje und hielt Vorträge zu dessen Leben und Werk sowie zu anderen frühen Vertreter*innen der Tierrechtsbewegung. Außerdem ist Renate als Übersetzerin tätig, so veröffentlichte sie beispielsweise Werke aus dem Niederländischen von Clara Wichmann oder über niederländische Tolstoianer*innen im Verlag Graswurzelrevolution.

„Ich habe immer wieder festgestellt, dass ein Engagement für Tiere oder für den Vegetarismus in den Biografien bekannter Persönlichkeiten nur sehr beiläufig oder manchmal auch gar nicht erwähnt wurde bzw. wird.“

Renate Brucker

Einen Einblick in Renates Forschungen und Übersetzungstätigkeiten erhaltet ihr im folgenden Interview. Das Interview führte Tom Zimmermann.


Liebe Renate, würdest du dich und deine Forschungen bitte unseren Leser*innen kurz vorstellen?

Ich bin im Ruhrgebiet geboren und lebe auch heute noch dort, habe Geschichte und Sozialwissenschaften studiert und diese Fächer in der Erwachsenenbildung (Abendgymnasium) unterrichtet. Als Kind war ich das, was man „tierlieb“ nennt, und da ich in der Nähe eines kleinen Zoos wohnte, ging ich sehr viel dort hin. Zum Teil taten die Tiere mir leid, vor allem die, die kleine Käfige hatten und z.B. Stereotypien zeigten. Ich durfte aber auch helfen und zum Beispiel mit einer Dingohündin oder den (als Tierheimersatz) dort untergebrachten Hunden spazieren gehen, und diese Ausflüge gefielen den Tieren sehr. Es ist ja auch so, dass sich manche Tiere an regelmäßige Besucher gewöhnen, zumal wenn die etwas mitbringen, und diese dann geradezu erwarten. Ich fühlte mich also quasi verpflichtet, sie beinahe täglich zu „besuchen“. Der Zoo wurde dann zugunsten von Neubauten stark verkleinert und die meisten Tiere, auch die Dingohündin, waren plötzlich fort. Wohin, das habe ich natürlich nicht erfahren. Das dazu, wie ich auf das Thema „Tiere“ gekommen bin.

Eigentlich wollte ich dann Veterinärmedizin studieren, aber Mitte der Sechzigerjahre waren die Tätigkeitsfelder noch viel stärker in der Landwirtschaft und am Schlachthof, weniger in der Kleintierpraxis. Ein Schlachthofpraktikum war verbindlich und tierliebenden Menschen wurde vom Studium eher abgeraten. So habe ich stattdessen meine Lieblingsfächer studiert.

Du arbeitest viel zur Geschichte der Tierrechtsbewegung und hast Deinen Schwerpunkt in den letzten Jahren unter anderem auf den Pazifisten Magnus Schwantje gelegt, dessen Nachlass du ein eigenes Online-Archiv gewidmet hast. Wie bist Du auf die Thematik und Schwantje gestoßen?

Anfang bis Mitte der Achtzigerjahre erfuhr das Thema „Tiere“ verstärkte Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, vor allem das der Tierversuche, u.a. im Vorfeld einer geplanten Reform des Tierschutzgesetzes. Es bildeten sich Gruppen von Tierversuchsgegnern und bei der 1979/80 gegründeten Partei „Die Grünen“ Landes- und eine Bundesarbeitsgemeinschaft „Mensch und Tier“. Fernsehsendungen, Zeitungsartikel und Bücher prangerten den Umgang mit Tieren an, und obwohl ich natürlich auch früher punktuell immer wieder von Tierquälereien gelesen hatte, waren das ganze Ausmaß und die Systematik dabei ein Schock für mich. Fleisch zu essen kam ab da nicht mehr in Frage, wir traten in den Vegetarierbund ein und arbeiteten später in der LAG (Landesarbeitsgemeinschaft) Mensch und Tier der Grünen und den Tierversuchsgegnern mit. In diesen Gruppen zirkulierten auch historische Texte von z.B. Leonard Nelson, Albert Schweitzer, Bertha von Suttner, Rosa Luxemburg, Leo Tolstoi und eben auch Magnus Schwantje. Die Texte von Schwantje, die zum Teil schon 1976 in dem Band I der „Gesammelten Werke“ erschienen waren, haben mich besonders beeindruckt und überzeugt, und sie entsprachen auch dem, was ich selbst dachte. Auch seine Biographie, dass er sein ganzes Leben für seine Ideale gearbeitet und viele Nachteile in Kauf genommen hat, war ungewöhnlich.

Was sind die Schlüsse, die Aktive der Tierbewegungen aus deinen Forschungen ziehen können? Welche Möglichkeiten bieten Schwantjes Veröffentlichungen für eine kritische Reflexion der eigenen Bewegung?

Ich möchte an einem Beispiel deutlich machen, wie wichtig es für eine soziale Bewegung ist, die eigene Geschichte zu kennen, denn da man sich in einem umstrittenen Feld bestellt, kann es leicht passieren, dass diese von Gegnern dieser Bewegung instrumentalisiert wird.

Bei den Grünen hatten sich anfangs relativ viele Menschen gefunden, die Tierversuche kritisch sahen und bei der geplanten Neufassung des Tierschutzgesetzes ein grundsätzliches Verbot von Tierversuchen einbringen wollten, wobei ja „grundsätzlich“ nur heißt, dass dies der Regelfall sein sollte und Ausnahmen immer möglich wären. Diesen Vorschlag brachte die Bundesarbeitsgemeinschaft „Mensch und Tier“ auf einer Bundesdelegiertenkonferenz ein. Am Tage der Abstimmung verteilte der Assistent einer Bundestagsabgeordneten, ein Mikrobiologe, ein Papier, auf dem dieser Vorschlag in manipulativer Weise einzig mit dem Reichstierschutzgesetz von 1933, also dem Nationalsozialismus, in eine historische Kontinuität gestellt wurde.  Die viel weiter zurück und von ganz anderen politischen Strömungen gespeisten Konzepte und Aktivitäten wurden verschwiegen,  und das Vorgehen selbst verstieß gegen die von den Grünen reklamierten Prinzipien von Transparenz, Offenheit und Loyalität in der politischen Arbeit. Die Befürworter des Antrags konnten dem nichts entgegensetzen und der Antrag fiel durch, denn wie ein Delegierter später erklärte: „Ich dachte, wenn ich dafür stimme, stimme ich für was Rechtes.“

Ein ähnliches Framing ist sehr oft zu beobachten, etwa wenn in wissenschaftlichen oder journalistischen Artikeln so getan wird, als wenn die Tierbewegung ganz entscheidend auf Peter Singer zurückgehen würde. Abgesehen davon, dass das historisch einfach falsch ist, dient dies dazu, „Tierliebe mit Menschenfeindlichkeit“ (wie oft formuliert wird) in Verbindung zu bringen. Ein erschreckendes Beispiel findet sich etwa hier: https://www.zeit.de/1989/27/von-menschen-und-tieren

Damit meine ich natürlich nicht, dass problematische Seiten der Tierbewegungen nicht thematisiert werden sollten, aber es ist wichtig, die demokratischen, pazifistischen, sozialistischen oder liberalen Anteile zu kennen und angemessen zu gewichten, um ein vollständiges Bild zu erhalten. Schwantje hat nationalistische, antisemitische, behindertenfeindliche und frauenfeindliche Äußerungen immer bekämpft und sich hiervon auch nicht abhalten lassen, wenn diese von Tierschützern kamen. Schwantje argumentierte für seine Zeit, in der immer nach dem „Typischen“ gesucht und stark pauschalisiert wurde, ungewöhnlich rational, immer am Einzelfall orientiert. Er vermeidet jede Diskriminierung und Selbsterhöhung aufgrund seiner ethischen Lebensführung. Er versucht, die Argumente anderer nachzuvollziehen und bezieht auch immer deren soziale Lage und besondere Lebenssituation ein, hält aber an der Bedeutung des tierethischen Ansatzes fest. Dabei geht er nicht von einer bestimmten Ideologie oder einem Glauben aus und ist sich der Begrenztheit der eigenen Wirksamkeit bewusst. Ich denke, dass dieser Ansatz zeitlos ist, d.h. dass heute zwar in anderer Sprache, aber auf ähnlicher Grundlage argumentiert werden kann. Er kann auch nicht als Einzelfall abgetan werden, da der von ihm gegründete Bund für radikale Ethik bis zu 800 Mitglieder hatte und durch Vorträge und Schriften auch in die Gesellschaft hineinwirkte.

Magnus Schwantje
© Magnus-Schwantje-Archiv
Beispiel-Publikation von Schwantje
© Magnus-Schwantje-Archiv
Erste Ausgabe der “Ethischen Rundschau”
© Magnus-Schwantje-Archiv

Du bist auch als Übersetzerin tätig und hast unter anderem Texte von Clara Wichmann, ebenfalls einer frühen Vertreterin einer Tierrechtsposition, aus dem Niederländischen übersetzt. Konntest du Unterschiede und Gemeinsamkeiten zur deutschsprachigen Tierbewegung ausmachen?

Leider hat die früh verstorbene Clara Wichmann ja nur wenige Texte zu Tierrechten veröffentlicht. Hauptsächlich argumentiert sie gegen die juristische Unterordnung von Tieren unter das Sachenrecht und die der Tierquälerei unter Vergehen gegen die Sitten. Sie plädiert ebenso wie damals auch etwa Leonard Nelson dafür, dass Tiere direkte Rechte haben sollten. Insofern bestehen große Ähnlichkeiten, zumal Clara Wichmann ja auch aus einer deutschen Familie stammte und viel deutsche Literatur las. Es gab auch Austausch, z.B. wurden Schriften von Magnus Schwantje ins Niederländische übersetzt, u.a. durch den Vorsitzenden des niederländischen Vegetarierbundes, Felix Ortt. Was die niederländischen Pazifisten anbetrifft, die teilweise von Tolstoi beeinflusst waren, so habe ich den Eindruck, dass hier Tiere eher berücksichtigt wurden und Vegetarismus stärker verbreitet war als in Deutschland.

Heute gibt es in den Niederlanden eine „Partei für die Tiere“, die 5 von 150 Abgeordneten in der 2. Kammer, also dem Parlament, hatte (inzwischen 4, eine Abgeordnete hat die Fraktion verlassen). Insofern ist man auf dieser Ebene dort besser aufgestellt als zum Beispiel in Deutschland, wo es allerdings allein schon von der Größe her viel schwieriger ist. Ansonsten sind viele Organisationen vergleichbar.

Wie sah deine/ eure Forschung aus? Hast Du Archive besucht oder dich rein auf Literatur zur Thematik fokussiert?

Zuerst habe ich natürlich Literatur gelesen – das Thema war ja neu. Dann habe ich angefangen, z.B. die Mitteilungen des Bundes für radikale Ethik in der Leibniz-Bibliothek in Hannover zu kopieren. Einiges fand sich auch im Institut für Zeitungsforschung in Dortmund, z.B. Der Vortrupp, eine Zeitschrift der Lebensreform, in der u.a. Hans Paasche publizierte. Durch den Vegetarierbund erfuhr ich, dass der Nachlass Magnus Schwantjes sich in einem meist unbewohnten Haus in Göttingen befand. So habe ich mehrmals einige Tage dort verbracht, Kopien und Notizen gemacht und schließlich jeweils mehrere Kartons mit Briefen nach Hause mitgenommen und dort gescannt.

Was war bisher die spannendste Erkenntnis deiner Forschung? Gab es Dinge, die aus heutiger Sicht eher skurril oder lustig wirken?

Ich habe immer wieder festgestellt, dass ein Engagement für Tiere oder für den Vegetarismus in den Biografien bekannter Persönlichkeiten nur sehr beiläufig oder manchmal auch gar nicht erwähnt wurde bzw. wird. Fast skurril – aber eigentlich so erwartet –  schien mir, dass in einer in der DDR publizierten Biographie Gustav Struves, der immerhin die Vegetarische Gesellschaft Stuttgart, den zweiten vegetarischen Verein in Deutschland, gegründet und vegetarische Bücher geschrieben hatte, dieser ihm selbst doch sehr wichtige Teil seines Lebens mit keiner Silbe erwähnt wurde.

Wie schätzt Du im Allgemeinen die Forschungslage zur Geschichte der Tierbewegungen ein?

Zu diesem Thema wird inzwischen, d.h. in den letzten Jahren, sehr viel mehr geforscht als früher. Ich merke das auch an den Anfragen, die ich relativ regelmäßig an das www.magnus-schwantje-archiv.de erhalte. Aber schon auf dem internationalen Kongress Animals in History in Köln 2005 berichteten die Veranstalter, dass sehr viel mehr Beiträge eingereicht worden waren als gewöhnlich, wenn es um andere Themen ging. Dies dürfte seither nochmals zugenommen haben. Man darf aber auch nicht vergessen, dass nicht nur Historiker hierzu forschen, historische Themen wie Tierhaltung, Tierversuche, Tierschutz, Vegetarismus waren und sind auch noch beliebte (Dissertations-)Themen in der Geschichte der Medizin bzw. Veterinärmedizin, der Biologie und auch in geringerem Umfang in der Rechtswissenschaft. Auch in anderen Fächern wie Philosophie, Sozialwissenschaften, Theologie, Kunstgeschichte, Ethnologie wird die Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung untersucht. Ich habe den Eindruck, dass diese Gebiete immer noch sehr wenig vernetzt sind, z.B. indem Historiker auch auf juristische Literatur zurückgreifen. Aber es ist natürlich auch schwierig, angesichts von Beiträgen aus so vielen Gebieten den Überblick zu behalten.

Soziale Bewegungen finden eher selten ihren Niederschlag in klassischen staatlichen Archiven. Siehst du dieses Phänomen auch für die Tierschutz-/ vegetarische Bewegung oder hast du in deiner Forschung andere Erfahrungen gemacht? Kurz gesagt: Wie gut oder wie schlecht ist der Quellenbestand zu deiner Forschungsthematik?

Dass Quellen zur Geschichte der Tierbewegung in staatlichen Archiven wenig vertreten sind, liegt daran, dass ihre Positionen zu zentralen Themen wie Tierversuchen und Vegetarismus als unwissenschaftlich galten und darum nicht gesammelt wurden. Es ist klar, dass Broschüren, die Tierversuche als „Verbrechen“ bezeichneten, von Universitäten nicht gern angeschafft oder ggf. auch wieder aussortiert wurden, das gleiche gilt natürlich für Schriften, die die herrschende Ernährungslehre in Frage stellten. Vereine sammeln selten systematisch ihre Materialien und wenn sie, wie z.B. die Vegetarische Gesellschaft in Dresden, vor dem 2. Weltkrieg ein Archiv im Privathaus des Vorsitzenden eingerichtet hatten, so ist dies jetzt eben nicht mehr vorzufinden, der Verbleib der Materialien ist unklar.

Erfreulich ist, dass es mittlerweile ein eigenes tierbefreiungsarchiv in Döbeln gibt und dass die historischen Bestände des Vegetarierbundes und der Nachlass von Magnus Schwantje im Archiv für alternatives Schrifttum (AFAS) in Duisburg aufgenommen wurden. Der Nachlass soll dort fachgerecht aufbereitet und aufbewahrt werden und eben von Interessierten genutzt werden können. Die beiden Archive sind zwar auch nicht staatlich oder kommunal, sondern von Trägervereinen abhängig, aber zumindest das AFAS erhält eine Förderung des Landes NRW und kann platzmäßig durchaus noch expandieren. Hier besteht wirkliches Interesse an den Materialien. Vereinzelt gibt es auch in staatlichen Archiven Interesse an der Thematik, so hat mich z.B. eine Archivarin des niedersächsischen Staatsarchivs kontaktiert, die auf eine Akte bezüglich der Entschädigung Magnus Schwantjes als politisch Verfolgter gestoßen und von Schwantjes Biografie und Ideen beeindruckt war.

Was die Quellen zu Schwantje betrifft, so sind zwar auch viele Aufzeichnungen von ihm, die er im Hause seiner Schwester aufbewahrt hatte, verloren gegangen, aber immerhin liegen ein umfangreicher Briefwechsel und seine Schriften vor. Weiter müssen wir davon ausgehen, dass – da die Unterlagen in die Stiftung Eden gebracht werden sollten – politisch „verfängliches“, z.B. pazifistisches, Material aussortiert werden musste, weil Eden dies zur Bedingung gemacht hatte. Aber ich meine, dass das vorhandene Material schon ein ziemlich genaues Bild der Arbeit Schwantjes und des Bundes für radikale Ethik ergibt.

Denkst du, die Auseinandersetzung mit der eigenen Bewegungsgeschichte kann für die heute aktiven Tierbewegungen sinnvoll sein? Und wenn ja, warum?

Wenn ich das nicht denken würde, hätte ich die historischen Texte von Magnus Schwantje und anderen Persönlichkeiten oder Zeitschriftenausgaben nicht online gestellt. Ich wollte ja den Zugang zu diesen Quellen ermöglichen, damit nicht nur Historiker, die in Archiven arbeiten, sondern alle Interessierten, sich direkt mit diesen Gedanken auseinandersetzen können und nicht nur auf Sekundärliteratur angewiesen sind. Aktive der Tierbewegungen werden immer wieder in historische Auseinandersetzungen geraten und sollten gerade darum die demokratischen Traditionen der Tierbewegungen kennen. Diese Traditionen sind so wertvoll, dass sie nicht vergessen werden sollten und sie können als positives Vorbild und Motivation dienen. Mir ist schon öfter gesagt worden: „Dass es solche Gedanken schon so lange gegeben hat, das wusste ich gar nicht“, insofern kann es bestärkend wirken, sich in eine weit zurückreichende Tradition einzuordnen. Es kann natürlich andererseits auch ernüchternd sein, dass die anfänglichen Erwartungen noch nicht realisiert wurden.

Bisher glänzen die Tierbewegungen wenig durch eine aktive Geschichts- oder Erinnerungskultur. Denkst du, dass die Etablierung solcher Konzepte innerhalb der Tierbewegung für ein (anderes) Geschichtsbewusstsein sorgen könnte?

Es hat ja schon öfter Tierrechts- oder Tierbefreiungstage mit historischen Beiträgen gegeben, und es wäre sicher denkbar, auch einmal eine Veranstaltung zu machen, die die Geschichte in den Mittelpunkt stellt. Dies könnte z.B. auch in einem Tierrechtsarchiv, etwa in Döbeln, stattfinden. Auch eine Ausstellung wäre vielleicht möglich. Ich habe mich eine Zeit lang bei der Stadt Berlin und der zuständigen Wohnungsbaugesellschaft darum bemüht, dass an der langjährigen Adresse des Bundes für radikale Ethik eine Hinweistafel, von denen es in Berlin ja mittlerweile viele gibt, angebracht oder eine Straße nach Magnus Schwantje  benannt wird. Das hatte allerdings keinen Erfolg.

Wie können die Geschichtswissenschaften dazu beitragen, ein Geschichtsbewusstsein innerhalb der Tierbewegung zu etablieren? Was können Historiker*innen oder Archivar*innen an Hilfestellungen leisten?

Eine Unterstützung könnte z.B. darin bestehen, das Thema mehr in der Forschung und Lehre zu berücksichtigen, auch in der Erwachsenenbildung, also Volkshochschulen oder Akademien. Das kommt zwar vor, aber doch relativ selten. Archivar*innen könnten prüfen, ob in ihren Beständen Material zum Mensch-Tier-Verhältnis vorhanden ist und ggf. übergeben oder Kopien etwa an das Tierbefreiungsarchiv oder das AFAS senden. Dafür müssten sie aber wissen, dass es diese Archive gibt. Das gilt auch für Bibliotheken, die – meist aus Platzgründen – Literatur aussondern, da konnte ich schon manchmal etwas retten. Da Kontakte aufzubauen, ist sicher sinnvoll.

Die Perspektive lässt sich ja drehen: Was könnte die Erforschung der Tierbewegungen für die Geschichtswissenschaft bringen?

Die Geschichtswissenschaft und auch die Sozialwissenschaften haben hier ein Themenfeld, das aus verschiedenen Perspektiven, z.B. aus Sicht der Bewegungsforschung, der Genderforschung, den Rechts- und Naturwissenschaften und der Medizin, der Philosophie und den Geistes- und Naturwissenschaften übergreifend bearbeitet werden sollte. Die Tierbewegungen waren auch international vernetzt, auch dies zwar bekannt und in Ansätzen erforscht, aber sicher nicht erschöpfend.

In welche Strukturen ist deine Forschung eingebunden – arbeitest du universitär oder projektgebunden?

Ich arbeite rein privat, d.h. ich habe meine eigenen Projekte, z.B. das virtuelle Magnus-Schwantje-Archiv und halte Referate oder schreibe Beiträge für Bücher oder Zeitschriften, wenn es gefragt wird.

Was würdest du dir in Bezug auf die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte von den Tierbewegungen wünschen?

Ich würde mir Interesse an der eigenen Geschichte wünschen, aber ich weiß auch, dass viele Menschen sich nicht besonders intensiv für Geschichte interessieren, und das kann man auch nicht verlangen. Vielleicht kann der eine oder die andere auf Quellen der Tierbewegungen achten, z.B. auf Flohmärkten oder bei e-bay.

Möchtest du abschließend noch etwas an unsere Leser*innen richten?

In der Geschichte der Tierbewegung ist noch vieles zu entdecken und aufzuarbeiten. Ich möchte die Leserinnen und Leser des Blogs ermuntern, das zu tun, auch auf Material zu achten (z.B. bei Wohnungsauflösungen, Flohmärkten, ebay usw.) und dies ggf. zu sichern und Archiven wie dem tierbefreiungsarchiv in Döbeln oder auch dem Archiv für alternative Literatur in Duisburg zur Verfügung zu stellen und so – oder auch auf andere Art, z.B. durch Spenden, falls möglich – zu fördern. Vieles ist schon verloren gegangen, aber anderes Material ist doch noch zu entdecken und könnte “gerettet” werden.

Vielen lieben Dank für deine Zeit und das Interview!