Interview mit Birgit Pack – Historikerin* in Wien

Birgit Pack ist Aktivistin*, Autorin* und Historikerin*. Birgit lebt und arbeitet in Wien. Sie forscht zur Geschichte der vegetarischen Bewegung und legt ihren Schwerpunkt dabei auf die Vegetarier*innen in Wien um 1900. Sie veröffentlicht ihre Ergebnisse auf ihrem eigenen Blog Vegetarisch in Wien um 1900 und in weiteren Medien, z.B. Zeitschriften wie dem Magazin TIERBEFREIUNG. Neben ihrer Forschungstätigkeit ist sie auch Mitherausgeberin* des Buches §278a Gemeint sind wir alle! Der Prozess gegen die Tierbefreiungsbewegung und seine Hintergründe. Dieses Werk entstand im Nachgang des Prozesses gegen Tierrechts- und Tierbefreiungsaktivist*innen in Österreich und wurde gemeinsam mit Christof Mackinger herausgegeben.

„Ich hoffe, dass das Wissen um die Geschichte der Tierbewegung irgendwann selbstverständlich ist, besonders weil ich es sehr oft erlebe, dass viele Aktivist*innen nicht einmal um die Existenz von z.B. Vegetarismusvereinen oder Tierrechtstexten vor 1900 wissen.“

Birgit Pack

Einen Einblick in die historische Forschung Birgits erhaltet ihr im folgenden Interview. Das Interview führte Tom Zimmermann.


Liebe Birgit, als erstes ein großes Dankeschön, dass du dir die Zeit für dieses Interview nimmst. Würdest du dich und dein Forschungsprojekt bitte unseren Leser*innen kurz selbst vorstellen?

Ich bin Historikerin, lebe seit mittlerweile über 20 Jahren in Wien, habe hier Geschichte studiert und arbeite seitdem freiberuflich an Projekten, die im Bereich der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, oft mit Wien-Schwerpunkt, angesiedelt sind. Ich war viele Jahre im Umweltschutz und in der Tierrechtsbewegung engagiert; letzterer fühle ich mich immer noch zugehörig, auch wenn ich derzeit praktisch nicht aktiv bin.

Seit mittlerweile über drei Jahren forsche ich zur Vegetarischen Bewegung in Wien im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und schreibe dazu Beiträge auf meinem Blog Vegetarisch in Wien um 1900.

Du forschst zur Geschichte der Vegetarischen Bewegung in Wien um das Jahr 1900. Wie bist du zu dem Thema gekommen?

Für die Geschichte der vegetarischen Bewegung habe ich mich schon während meines Studiums interessiert, weil ich selbst vegetarisch (bzw. mittlerweile vegan) leb(t)e. Wenn es in einem Seminar möglich war, habe ich Referate bzw. Seminararbeiten zu dem Thema gemacht. Ein Forschungsprojekt ist dann auf Umwegen daraus geworden: Nachdem ich jahrelang – neben anderen Projekten, aus Interesse – in den Wiener Bibliotheken immer wieder Bücher und Broschüren über Vegetarismus, hauptsächlich aus dem 19. Jahrhundert, bestellt und durchgesehen habe, hatte ich eine beträchtliche Menge an bisher nicht ausgewertetem Material zusammengesammelt und begann zu überlegen, was ich damit machen soll. Eigentlich wollte ich eine Ausstellung dazu machen, um die Geschichte der vegetarischen Bewegung, von der oft nicht einmal veg* Aktivist*innen etwas wissen, bekannter zu machen. Dafür habe ich bis heute keine Finanzierungsmöglichkeit gefunden (die Suche läuft weiter!), aber ich bekam von der Kultur- und Wissenschaftsabteilung der Stadt Wien, wo ich um eine Ausstellungsförderung angesucht hatte, die Möglichkeit, mich im Rahmen eines Forschungsprojekts näher mit dem Thema auseinanderzusetzen. Der Wien-Schwerpunkt hat sich durch diese Forschungsförderung ergeben, macht aber auch inhaltlich Sinn, weil Wien eine der kontinuierlichsten vegetarischen Szenen in der Habsburgermonarchie hatte und aus dem praktischen Grund, dass Quellen dazu hier in den Bibliotheken vorhanden sind. Zeitlich umfasst das Projekt die Jahre zwischen der ersten Vereinsgründung 1870 und 1938, als der Beginn der NS-Herrschaft das Ende der „ersten“ vegetarischen Bewegung einläutete. „Um 1900“ ist dafür eine etwas ungenaue Abkürzung, aber als Titel weniger sperrig und in Österreich ein Zeitraum, der sich sehr gut verkauft 😉

Wie sah deine Forschung bisher aus? Kannst du uns einen kleinen Einblick geben, wie du als Historikerin* an deine Forschung herangegangen bist? Und gibt es Dinge, die du aus deiner Erfahrung heute anders machen würdest?

Die Literatur zur Vegetarismus-Geschichte in Österreich ist sehr spärlich, deswegen habe ich schnell begonnen, Quellen zu recherchieren und zu benutzen. Hauptsächlich habe ich bisher gedruckte Quellen benutzt, die in Bibliotheken vorhanden sind: Bücher, Broschüren, Zeitschriften und Zeitungsberichte. Vor allem Wiener Tageszeitungen haben sich als sehr ergiebig erwiesen für Informationen über Veranstaltungen, die die Vegetarier*innen abgehalten hatten, für Restaurants und Vereinsgründungen. Sehr viele Tages- und Wochenzeitungen sind über das Portal ANNO der Österreichischen Nationalbibliothek erschlossen und können nach Stichworten durchsucht und online eingesehen werden.
Leider gibt es kein Vereinsarchiv des Wiener Vegetariervereins, der immerhin von 1877–1940 bestanden hatte. Auch sonst ist in den Archiven kaum Material vorhanden. Es ist sehr deutlich, dass Vegetarismus kein Thema war, dass für Archivar*innen bei der Entscheidung, welche Dokumente sie ins Archiv aufnehmen, und welche vernichten, relevant gewesen wäre. Das betrifft z.B. Polizeiprotokolle, Steuerunterlagen oder Gewerberechtliches. Eine Recherchemöglichkeit, die ich aufgrund des Zeitaufwandes noch nicht genutzt habe, ist jene nach privaten Sammlungen bei den Nachkommen von vegetarischen Aktivist*innen oder Restaurantwirt*innen.

Zeitlich besteht ein großer Teil meiner Arbeit darin, Quellenbestände durchzusehen: auch wenn die Digitalisierung Recherchen nicht nur erleichtert, sondern vieles überhaupt erst möglich macht (ich könnte nie 100 Zeitungen bzw. Zeitschriften in Papierform durchsuchen), so bleibt immer noch viel Arbeit übrig: das Stichwort „vegetar*“ liefert beispielsweise im erwähnten Zeitschriftenportal ANNO für die Zeit zwischen 1870 und 1914 (Erscheinungsort Wien) über 6000 Treffer, aus denen ich jene herausfiltern muss, die tatsächlich interessant für meine Fragestellungen sind.

Was ich anders machen würde und auch allen, die historisch arbeiten, empfehlen kann:

  • Ich würde strukturierter vorgehen. Ich tendiere dazu, mich von meinem (Unter-)Thema ablenken zu lassen und verbringe, z.B. wenn ich einen interessant klingenden, aber für mich nicht relevanten Buchtitel lese, schnell 1-2 Stunden damit, in diese Richtung weiterzulesen, anstatt mich auf mein aktuelles Rechercheziel zu fokussieren.
  • Ich würde grundlegende Literatur nicht nur ausborgen und das notieren / kopieren, was mir in diesem Moment wesentlich scheint, sondern kaufen oder komplett kopieren, weil ich im Laufe der Arbeit schon oft auf weitere Aspekte gekommen bin, die in dem jeweiligen Buch / Aufsatz enthalten sind.
  • Ich würde gerne wesentlich mehr zur Präsentation und Publikation meiner Forschungsergebnisse unternehmen, das scheitert nicht nur an der Zeit, sondern auch daran, dass ich manchmal zu perfektionistisch bin und z.B. erst ein fertiges Buchmanuskript und nicht nur eine Idee einem Verlag präsentieren will.
  • Zu akzeptieren, dass ich als Historikerin manche Fragen auch einfach nicht beantworten kann bzw. trotz gründlicher Recherchen manche Informationen nicht finde, musste ich auch erst lernen.

Was war bisher die spannendste Erkenntnis deiner Forschung? Gab es Dinge, die aus heutiger Sicht skurril oder auch lustig wirken?

Am spannendsten finde ich, dass viele Vegetarier/innen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts – auch wenn sie heute oft als anti-modernistisch dargestellt werden – bei vielen Diskursen Pionier/innen waren: sie thematisierten z.B. als erste das, was heute als Konsument/innenschutz gilt (wie z.B. gesundheitliche Mindeststandards für Lebensmittel); sie waren, lange bevor es das Wort „Vitamine“ gab, vom Nutzen von Obst und Gemüse überzeugt. Beeindruckend ist für mich auch, dass um 1870 kaum vegetarische Vorbilder bestanden und trotzdem Menschen – ohne recht zu wissen, was die Alternative sein könnte – „Nein“ zu Fleisch sagten.

Lachen muss ich meistens, wenn ich über ablehnende Reaktionen auf den Vegetarismus etwas lese, das fast wortwörtlich heute von Bauernbünden oder Facebook-Trollen kommen könnte, zum Beispiel uralte Witze oder die Aufregung um Produkte und Bezeichnungen wie „Pflanzenbutter“ oder „Vegetarierschnitzel“, die auch um 1900 schon sehr groß war.

Wie schätzt du im Allgemeinen die Forschungslage zur Geschichte der Tierbewegungen ein?

[Tierbewegungen = Sammelbegriff für Bewegungen, deren Aktive sich aus tierethischer Motivation heraus engagieren, z.B. Tierschutz, Tierrechte, Tierbefreiung, Vegetarismus, Veganismus]

Ich finde es sehr positiv, was sich da in den letzten 20 Jahren getan hat, nicht nur quantitativ, sondern vor allem qualitativ, aber es gibt noch viel unerforschte Bereiche – und diese werden ja immer mehr, wie mir bei der Jubiläumsnummer der Tierbefreiung bewusst wurde. Mittlerweile kann mensch ja schon jene Zeit, die ich um 2000 herum selbst als Aktivistin miterlebt habe, historisch dokumentieren und erforschen.

Soziale Bewegungen finden eher selten ihren Niederschlag in klassischen staatlichen Archiven. Siehst du dieses Phänomen auch für die Tierschutz-/ vegetarische Bewegung oder hast du in deiner Forschung andere Erfahrungen gemacht? Kurz gesagt: Wie gut oder schlecht ist der Quellenbestand zu deiner Forschungsthematik?

Absolut! In Wien findet mensch im Staatsarchiv zwar detaillierte Aufzeichnungen zu, ich glaube, allem, was am Kaiserhof eingekauft und gegessen wurde, aber die Quellenlage zu Vegetarismus und Tierbewegungs-Themen ist miserabel.

Leider haben auch jene Vereine, die nach wie vor existieren (in Wien der Wr. Tierschutzverein seit 1846 und der Naturheilverein seit ca. 1895) keine nennenswerten Archive, sie haben maximal die Vereinszeitschriften aufgehoben, aber sonst keinerlei Material. Besonders bei Flugblättern und Fotos finde ich das sehr, sehr schade.

Denkst du, die Auseinandersetzung mit der eigenen Bewegungsgeschichte kann für die heute aktiven Tierbewegungen sinnvoll sein? Und wenn ja, warum?

Zuallererst finde ich es interessant zu sehen, was es in diesem Bereich früher gab. Meiner Meinung nach kann die Auseinandersetzung mit der Bewegungsgeschichte auch sinnvoll für die Gegenwart sein, weil mensch mit Distanz oft Zusammenhänge leichter erkennt oder akzeptieren kann. Nicht zuletzt bedeutet die Beschäftigung mit der Vergangenheit auch, all jene, die sich vor hundert oder mehr Jahren für ähnliche Ziele einsetzten, dem Vergessen zu entreißen.

Bisher glänzen die Tierbewegungen wenig durch eine aktive Geschichts- oder Erinnerungskultur. Denkst du, dass die Etablierung solcher Konzepte innerhalb der Tierbewegung für ein (anderes) Geschichtsbewusstsein sorgen könnte?

Ja, durchaus. Ich hoffe, dass das Wissen um die Geschichte der Tierbewegung irgendwann selbstverständlich ist, besonders weil ich es sehr oft erlebe, dass viele Aktivist*innen nicht einmal um die Existenz von z.B. Vegetarismusvereinen oder Tierrechtstexten vor 1900 wissen.

Wie könnten die Geschichtswissenschaften dazu beitragen, ein Geschichtsbewusstsein innerhalb der Tierbewegungen zu etablieren? Was könnten wir als Historiker*innen oder Archivar*innen an Hilfestellungen leisten?

Auf der praktischen Ebene: Die Aufbereitung bzw. das Zugänglichmachen von Quellen und historischem Hintergrundwissen, am besten in unterschiedlichen medialen Formen.

Inhaltlich: Eine differenzierte und auch kritische Auseinandersetzung mit der Bewegungsgeschichte. Ich stoße immer wieder auf Vereinschroniken, in denen z.B. die NS-Zeit in zwei Sätzen als „dunkle Jahre“ abgehandelt wird, ev. werden dann noch Details erwähnt, wie dass ein Tierheim mit Futterknappheit zu kämpfen hatte, aber eine kritische und verantwortungsbewusste Auseinandersetzung auch mit negativen Teilen der Geschichte wie z.B. Antisemitismus fand lange Zeit gar nicht statt.

Historiker*innen oder Archivar*innen können meiner Ansicht nach dazu beitragen, dass Geschichte thematisiert wird und dabei sowohl ein solidarischer als auch kritischer Blick eingenommen wird.

Die Perspektive lässt sich ja drehen: Was könnte die Erforschung der Tierbewegungen für die Geschichtswissenschaften bringen?

Geschichte fokussiert – trotz aller Paradigmenwechsel der letzten Jahre wie der Alltagsgeschichte – immer noch sehr stark auf „großen“ Namen und Ereignissen und reproduziert dadurch auch Machtverhältnisse. Forschungen zu den Tierbewegungen könnten hier ein – weiteres – Gegengewicht sein und – gerade weil es dazu noch immer wenig Literatur gibt – dazu motivieren, Forschungsarbeit wieder verstärkt als Quellenarbeit zu begreifen, was auch keine Selbstverständlichkeit ist.

In welche Strukturen ist deine Forschung eingebunden – arbeitest du universitär oder projektgebunden?

Ich arbeite projektgebunden, mit allen Vor- und Nachteilen: Ich habe schlechteren Zugang zu Ressourcen, kann mich dafür aber zu einem Großteil der Forschung (und nicht z.B. Administrativem) widmen.

Was würdest du dir in Bezug auf die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte von den Tierbewegungen wünschen?

Legt bitte Archive an!

Möchtest du abschließend noch etwas an unsere Leser*innen richten?

Falls euer Geschichte-Unterricht in der Schule langweilig war (was ich ständig höre und auch selbst erlebt habe): Gebt der Geschichte eine 2. Chance!

Vielen lieben Dank für deine Zeit und das Interview!